Amazing Grace

Vielleicht hat sie wie viele kleine und große Mädchen von einem Prinzen geträumt. Ganz unerwartet kommt er, ist plötzlich da, stolz und hoch zu Roß, auf einem weißen Pferd für alle zu sehen,um gerade SIE zu retten. Damit ihr Leben endlich gut wird, alles anders und neu wird, irgendwie. Aber wie bei den allermeisten kleinen und großen Mädchen kam auch bei ihr kein Prinz, oder ein edler Ritter. Es kamen nicht einmal Frösche, bei denen man noch hoffen konnte: Wenn man sie nur richtig küsst, dann würden sie sich schon noch in einen Prinzen verwandeln. Nein, es kamen nicht mal Frösche, es kamen nur die Kröten. Fiese Kröten, die sie schlucken musste.Nichts was kam, war gut. Nicht die Ehe mit dem Mann, die ihr Vater arrangiert hatte. Und auch nicht die Affaire mit dem anderen Mann, es ging ihm nicht um sie. Was in ihren Augen wie ein Märchen begann, wurde innerhalb kürzester Zeit zum Albtraum. Und jetzt steht sie da in der Mitte, da wurde sie abgestellt. Um sie herum die Menschen mit den geordneten Leben, die es richtig machen, bei denen es gut läuft. Jetzt steht sie da im Tempel. In Flagranti beim Ehebruch erwischt, beschämt, ausgenutzt, enttäuscht. Sie senkt den Kopf, nichts will sie mehr sehen, und niemand soll ihre Augen sehen. Sie will auch nichts mehr hören,es ist eh alles zu spät. Aber die Menschen um sie herum reden zu laut.

„Lehrer, diese Frau ist beim Ehebruch ertappt worden. In der Tora steht, dass man solche Frauen steinigen soll. Was meinst du?“

Wenn der Prinz auf dem weißen Pferd jetzt nicht kommt, braucht er nie mehr kommen, denkt sie.

Aber er kommt nicht. Nur dieser Jesus hockt da. Und der besitzt nicht mal einen Esel. Und sagen tut er auch nichts, er malt nur Zeichen in den Sand, flüchtig, vergeblich, nichts für die Ewigkeit.

„Lehrer, diese Frau ist beim Ehebruch ertappt worden. In der Tora steht, dass man solche Frauen steinigen soll. Was meinst du?“

Sie sieht aus den Augenwinkeln, wie dieser Jesus sich erhebt.

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“.

Sie duckt sich weg, hält die Hände vor ihr Gesicht, hält den Atem an, wartet auf den Schmerz, überall.  Aber es trifft sie kein einziger Schlag. Sie hört nur Schritte, die leiser werden. Sich entfernen. Sie lugt zwischen ihren Händen hervor. Sie sind alle weg. Sie atmet hastig ein und aus. Ihre Blicke treffen Jesu Augen. Sie nimmt die Hände vom Gesicht.

„Frau, wo sind sie? Hat dich niemand gerichtet?“

„Niemand, Rabbi.“

„Auch ich richte dich nicht; aber weißt du: das Leben ist kein Märchen und kein Mann dieser Welt wird dich retten. Geh und fall von nun an nicht mehr auf falsche Versprechungen rein.“

Sie atmet tief ein, mindestens drei Zentner Steine fallen von ihr ab und das Leben ist eine Melodie.

GESUNGEN:

1. Amazing grace,

how sweet the sound

That saved a wretch like me

I once was lost, but now I am found

Was blind, but now I see.

Was ist das für eine unglaubliche Gnade,

wie süß ist ihr Klang,

die eine verlorenen Sünderin  wie mich rettete!

Ich war verloren, aber nun habe ich meinen Weg gefunden,

ich war blind, aber jetzt sehe ich.

Das Lied Amazing Grace ist kein Liebeslied, keine romantische Schnulze, es geht nicht um ein Märchen und schon gar nicht um einen Prinzen. Es geht um Lebensrettung. Und die geschieht meist ohne Glamour und ohne Publikum. Ärzte und Rettungssanitäter wissen das und jeder und jede, die schon mal bei einer Rettung dabei gewesen ist, oder sogar selbst gerettet werden musste.

Wer gerettet werden muss, hat die Kontrolle und die Beherrschung über das eigene Leben verloren. Wer gerettet werden muss, ist von Hilfe, von Taten und Worten von anderen abhängig und kann selbst nichts mehr tun. In solcher Not zu sein ist meist ein Horror und nicht ansatzweise eine schöne Erfahrung.

Aber gerettet werden aus einer aussichtslosen Lage, erzählt das Lied, ist amazing, also unglaublich, fantastisch, ist sweet, süß, ein Genuß. How sweet the sound, wie süß die Erfahrung, wie groß die Erleichterung,die Dankbarkeit, das Glücksgefühl schreibt John Newton[1],spätberufener Pfarrer in Olney, England in der Neujahrnacht 1773. Da hat er gerade erfahren, dass das Leben des Kirchenmusikers William Cowper gerettet werden konnte, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Es ist nicht das erste Mal, dass John Newton Zeuge von dieser unglaublichen, süßen Gnade wird.

Durch viele Gefahren, Mühen und Herausforderungen habe ich es bereits geschafft.

Es ist Gnade, die mich sicher so weit brachte,

Und Gnade wird mich heim leiten.

GESUNGEN

Through many dangers, toils and snares,

I have already come;

‚Twas grace has brought me safe thus far,

And grace will lead me home.

John Newton wird als Kind ins Heim gesteckt, traumatisiert und entwickelt einen Hang zu Gewalt und Schlägereien.Nachdem er zwangsrekrutiert wird, begeht er Fahnenflucht und wird dafür nur ausgepeitscht, obwohl darauf die Todesstrafe steht. Süße überraschende Gnade.

Er plant einen Mord und wird davon abgehalten.

Erstaunliche süße Gnade.

Auf hoher See zerstört ein Orkan sein Schiff. Mannschaft und Fracht gehen über Bord. John kettet sich ans Steuer und schreit bei jedem Brecher: „Gott, töte nicht deinen verlorenen Sohn.“ Vier Wochen lang lenkt er das Wrack und die wenigen Überlebenden nach Irland.

Fantastische süße Gnade.

GESUNGEN

‚Twas grace that taught my heart to fear,

And grace my fears relieved;

How precious did that grace appear,

The hour I first believed!

Es war Gnade, die mein Herz Ehrfurcht lehrte,

Und Gnade, die meine Ängste linderte.

Wie kostbar erschien mir diese Gnade

In der Stunde, in der ich zu glauben anfing.

Amazing Grace gilt als Hymne der Menschenrechte. Ehrfurcht vor jedem Menschenleben, egal welcher Hautfarbe,welchen Geschlechts, welcher Religion, welcher sexuellen Orientierung, das lernen wir in unserer Kultur seit etwas mehr als 100 Jahren, nicht ohne Rückschritte hier und da, aber immerhin: wir sind auf dem Weg.

John Newton jedoch lebt in einer anderen Zeit. Er bekommt das Angebot, Kapitän für 3 Sklaventransporte von Afrika in die Karibik zu werden! Für ihn sind „Wilde“ Fracht wie Holz oder Tuch.

Den Unterschied erlebt er auf hoher See: von den 218 Sklaven seiner ersten Fahrt sterben 67 unterwegs. An Durchfall, Hitzeschlag, Seekrankheit, bei Schlägereien und durch Selbstmord.

Angewidert gibt John Newton sein Kapitänspatent zurück. Und erfährt zum 1. Mal in seinem Leben, dass es Menschen gibt, die dafür kämpfen, die Sklaverei abzuschaffen. Aber er schließt sich ihnen noch nicht an. Stattdessen will er Pfarrer werden, studiert die Bibel und lernt den Prediger John Whitefield kennen. Durch ihn entwickelt er Unrechtsbewusstsein, Empathie und Reue. Was blind, but now I see. Ich war blind, aber jetzt lebe ich anders und das reicht, weil Gott gnädig ist.

Amazing Grace GESUMMT oder Instrumental.

Die erstaunliche Gnade die Newton erfährt, verändert ihn, nimmt ihn in die Pflicht, nimmt ihm seine Angst, gibt ihm Mut. So oft wurde er schon gerettet, er ist sich sicher, Gottes Gnade wird ihm immer wieder begegnen. Die Kirche lässt mit ihrer „Gnade“ sieben Jahre warten. Erst dann ordiniert sie ihn zum Pfarrer. In seinen Gottesdiensten singt man moderner. „Afrikanischer“ sagen manche abwertend, aber das zieht die jungen Menschen an. Auch William Wilberforce, Adliger im britischen Oberhaus. Durch die Unterstützung seines väterlichen Freundes John Newton erreicht er, nach langem politischen Kampf am 24. Februar 1807 im gesamten britischen Weltreich ,dass Menschenhandel verboten wird.

Amazing Grace ist ein Rettungslied. Gnade ist eigentlich immer Rettung, in manchen Liedern wird Gott oder Jesus sogar als Retter oder im englischen mit „My Saviour“ angesprochen. Die Frau im Tempel und John Newton, sein Kirchenmusiker und die Sklaven erfuhren seine Gnade körperlich. Ihr Leben wurde buchstäblich gerettet. Dabei erfuhren sie gleichzeitig Rettung  von ihren falschen, fatalen Vorstellungen über sich selbst, ihr Leben und das der anderen. Das war auch mit schmerzhaften Einsichten verbunden, mit Reue, mit neuen Herausforderungen, aber es hat sie auch zu Gott geführt. Und zum Lob Gottes, sowie wir es heute hier singen und hören.

Und wenn es uns auch schon zehntausend Jahre gibt,

Hell scheinend wie die Sonne,

Haben wir doch keinen Tag weniger Gottes Lob zu singen,

als zu dem Zeitpunkt, an dem wir damit angefangen haben.

GESUNGEN

When we’ve been there ten thousand years,

Bright shining as the sun,

We’ve no less days to sing God’s praise

Than when we’d first begun.



[1] Andreas Malessa, Gospel gegen Sklaverei, publik-forum 1, 2015.

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