Eine Lesepredigt in ’normaler‘ LĂ€nge đ mit narrativen Elementen fĂŒr den 27.10.2019
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
die Liebe Gottes,
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Ich habe Ihnen zwei Geschichten geschrieben, die fĂŒr mich den Predigttext in unsere Zeit ĂŒbersetzen.
I
Die erste Geschichte: Martin
Zuerst sind Martins Familie, Freunde und Arbeitskollegen immer fĂŒr ihn da. Geschockt ĂŒber seine Diagnose sind sie zuerst sprachlos, aber dann versuchen sie ihm mit Worten Mut zu machen: âDu kommst schon wieder auf die Beineâ. Auch als dieser Genesungswunsch nicht wahr wird, besuchen Martins Freunde ihn weiter in der Klinik und spĂ€ter auch bei ihm Zuhause. Dann bringen sie das âLeben von drauĂenâ mit zu ihm, erzĂ€hlen, was passiert in der Welt. FĂŒr diese Momente gehört Martin wieder ganz dazu. Nur, dass sie stehen und sitzen und wieder gehen und er immer liegt, immer bleibt. Martin und seine Freunde begegnen sich nie auf Augenhöhe. Karten schicken sie ihm, als gĂ€be es keine Smartphones, und seine LieblingssĂŒĂigkeiten bringen sie mit. Alles, damit seine Genesung angenehmer und schneller voranschreitet.
Aber es wird nicht besser.
Nach drei Monaten resigniert Martin, nichts interessiert ihn mehr, nur die Fachartikel ĂŒber seine Krankheit und Therapien aus Amerika.
Nach sechs Monaten gehen seinen Freunden und Kollegen die Worte aus, Martin merkt, dass sie schnell wieder nach Hause wollen. Dahin, wo keine Krankheit, keine EinschrĂ€nkung, keine AbhĂ€ngigkeit herrscht. Und dann sagt ein Kollege: âJa, unser Leben muss ja auch weitergehen.â Und kommt nicht mehr. Martin versinkt zum ersten Mal in seinem Leben in Selbstmitleid.
Da hat seine Familie ihr Leben schon lange um ihn herum organisiert. Martin weiĂ, er sollte dankbar sein, aber eigentlich ist ihm alles, was fĂŒr ihn getan und geregelt werden muss, unangenehm und lĂ€stig. Scheinbar das Letzte, was Martin geblieben ist, ist seine schlechte Laune.
Dann steht Volker, Martins alter Freund, plötzlich in seinem Zimmer, Jahre haben sie sich nicht gesehen. Erstaunt sieht er sich um und sagt dann: âKönnen wir den Sessel von all den Zeitschriften befreien und dich fĂŒr eine halbe Stunde hineinsetzen?â
Und als Martin endlich missmutig, aber aufrecht dort sitzt, sieht Volker ihn besorgt an: âWorauf wartet du?â
Martin sieht ihn verdutzt an und schreit dann: âDass ich wieder gesund werde!â
Aber Volker schaut ihn weiter ruhig an und sagt: âWĂ€hrend du hier liegst und besessen bist von deiner Heilung, wirst du und alle anderen um dich herum nur krĂ€nker. Deine Frau wird krank an der Belastung und deiner Laune und deine Kinder sind lieber bei anderen Familien. Alle anderen sind sowieso schon weg. Bald hast du niemand mehr. Ich weiĂ, es ist schwer, aber es ist Zeit, dass du wieder auf die anderen zugehst. Schreib ihnen, ruf sie an, lade sie ein, denk dir was aus! Und lern das endlich mit dem Rollstuhl! Wenn du hier noch lĂ€nger so weitermachst, versĂŒndigst du dich an dir selbst und an denen, die du liebst.â
Auch der Predigttext erzÀhlt von einem Menschen, der allein auf Heilung wartet, ich lese aus dem Johannesevangelium (5):
5 Es war aber dort (am Teich Betesda) ein Mensch, der war seit achtunddreiĂig Jahren krank.
6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Krankheit macht einsam, wenn man nur noch auf die Krankheit oder auf dessen Heilung sieht. Das passiert schnell, zu Jesu Zeiten und zu unseren auch. Wie gerne hĂ€tte jeder sein âaltes Lebenâ zurĂŒck, der ernsthaft und dauerhaft eingeschrĂ€nkt und behindert ist. Je lĂ€nger eine Krankheit dauert, desto weniger Freunde und Bekannte melden sich, auch bei Krankheiten, die nicht ansteckend sind. Das kennen Sie vielleicht, von eigenen Krankheitszeiten oder Angehörigen. Vielleicht kennen Sie auch das, wie das ist, wenn man nicht mehr weiĂ, wie man chronisch schwer erkrankten Menschen begegnen soll. Kranksein macht schnell einsam und lĂ€sst nicht wenige vorerst oder dauerhaft in ein tiefes schwarzes Loch fallen. Schwer Erkrankte sind gefĂ€hrdet, zusĂ€tzlich depressiv zu werden und ihre Familien zeigen ebenfalls eine erhöhtes Risiko fĂŒr psychische Erkrankungen. Aber es gibt auch Menschen, die trotz gröĂter EinschrĂ€nkungen nicht auf das Wunder im Teich oder in der Wissenschaft warten, sondern die Kraft bekommen, das Wunder zu sein.
Der Ausnahmewissenschaftler Stephan Hawking war so ein Mensch oder auch Philippe, der Tetraplegiker aus dem Film âZiemlich beste Freundeâ, dessen Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht. Nach seiner depressiven Zeit wagt er es nicht nur, neue Freundschaften einzugehen, sondern auch eine neue Liebe.
(Vielleicht Musik, 1 Strophe instrumental vom Predigtlied)
II
Die zweite Geschichte: Andrea
Andrea hat ein tolles Leben: Tolle Wohnung, toller Job, toller Mann, tolles Handicap beim Golf und den Vorsitz im Club noch dazu. Gute Figur, gutes Zeitmanagement â und: Gute Prinzipien. Die haben sie so weit gebracht. 1. Prinzip: âVon nix, kommt nix.â Egal ob beruflich oder privat, Andrea investiert in ihr GlĂŒck. 60 Stunden pro Woche arbeitet sie plus Ăberstunden, Haushalt, Ehrenamt, Fitnessstudio, Golfen, Paartherapie. Das kostet sie alle Zeit, aber es lohnt sich. Zumindest Andrea kann es sehen, wenn sie sich sich umguckt. Ob jemand anderes âihr Investmentâ auch sieht, weiĂ sie nicht, sie hat keine Zeit auf Facebook zu posten und es ist ihr zu blöd von ihren Erfolgen auf Partys zu erzĂ€hlen. Gut, dass sie in letzter Zeit immer weniger Einladungen bekommt, die âguten GrĂŒndeâ gehen ihr aus und da ihr 2. Prinzip âEffektivitĂ€tâ und ihr 3. eigentlich âEhrlichkeitâ ist, kommt ihr das alles sehr entgegen. Wenn sie einen âMĂ€delsabendâ machen, muss Andrea spĂ€testens nach einer Stunde daran denken, was sie alles in der Zeit schaffen könnte, die sie grad bei Filmen, Gequatsche und GetrĂ€nken vergeudet. Als ihre Freundinnen sie fragen, was sie denn gerne mal machen wĂŒrde, sagte sie: âAch, wenn ich doch nur Zeit hĂ€tte, berufsbegleitend noch dieses Studium zu machen!â Kaum ist sie Zuhause, schreibt sie die Online-Bewerbung und schickt sie ab. Voller Begeisterung beginnt sie das Fernstudium, als zwei Monate spĂ€ter ihr Arbeitskollege krank wird, ĂŒbernimmt Andrea seine Aufgaben einfach mit. Sie ist berauscht von dem, was sie alles kann. Nach vier Monaten wacht sie samstags auf und kann nicht aufstehen. Nach drei Stunden zwingt sie sich mit letzter Kraft und will sich einen Kaffee kochen. Sie geht zum Kaffeevollautomaten und macht ihn an. Aber die Kaffeebohnen sind leer. Sie macht den Kaffeevollautomaten wieder aus. Sie macht den Wasserkocher an. Sie sucht die FiltertĂŒten. Sie findet sie hinter den Kaffeebohnen. Andrea weiĂ nicht, was sie jetzt tun soll. Bohnen auffĂŒllen oder einfach mit dem Filter Kaffee kochen? FĂŒnf Minuten ĂŒberlegt sie, lĂ€uft hin und her, kommt nicht weiter, dann geht nichts mehr. Andrea steht in der KĂŒche, wie gelĂ€hmt. Kann nichts mehr tun. AuĂer weinen. So findet sie ihr Mann drei Stunden spĂ€ter und fragt sie: âWas ist denn mit dir los?â Und Andrea schreit ihn an: âWarum muss ich immer alles alleine machen!â âWeil du alles viel lieber alleine machst,“ schreit er zurĂŒck und knallt die TĂŒr hinter sich zu. Als Andrea nach drei Tagen immer noch im Bett liegt und weint, ruft ihr Mann am Wochenende den psychiatrischen Notdienst. Die Ărztin setzt sich neben Andrea und fragt: âWarum weinen Sie?â Und Andrea schaut aus dem Fenster und fragt: âWarum muss ich immer alles alleine machen?â Die Ărztin antwortet ihr : âSie mĂŒssen nicht alles machen. Und das, was sie machen, schon gar nicht immer alleine.â
âDoch, wenn ich es nicht mache, macht es niemand fĂŒr mich. Und wenn ich nichts mache, dann fĂŒhle ich mich so allein. â
Die Ărztin legt den Arm auf Andreas Schulter: âDeshalb arbeiten Sie sich lieber kaputt, ja?! Sie mĂŒssen ihren ganzen Mut zusammen nehmen und sich auf eine Strandmatte am Meer legen und sich ausruhen. Sie sind total ĂŒberlastet. Ich schreibe Sie vier Wochen krank, dann sehen wir weiter. Sie mĂŒssen sich trauen, anders zu leben. Mit den anderen und auch durch ihre Hilfe. Es ist nicht gut, wenn der Mensch alleine ist. Es ist nicht gut, wenn Sie denken, Sie mĂŒssen alles alleine machen.â
Viele Menschen sind körperlich gesund, aber weil sie sich einsam fĂŒhlen oder wirklich allein sind, machen sie sich ihre psychische Gesundheit und Beziehungen kaputt. Das passiert vielen, auch Menschen, die eigentlich Familie und Freunde haben – und meist passiert es lange unbewusst. Wer mag sich schon eingestehen, einsam zu sein, unglĂŒcklich in seinen Beziehungen? Da ist es leichter, in Arbeit zu verfallen oder in anderen âProjektenâ. Oft ist das noch schlimmer als ânurâ körperlich zu erkranken. Denn es ist noch schlimmer, sich selbst zu verlieren. Es ist noch schlimmer, Gott zu verlieren. Ich glaube, Gottes Barmherzigkeit brauchen wir genau dann am meisten, wenn wir mit uns selbst ungnĂ€dig geworden sind. Denn ich glaube auch: Es ist noch schlimmer, die Menschen, mit denen man lebt, zu verlieren. Das ist heute so und damals in der Zeit Jesu war es auch so. Letztendlich zĂ€hlt mehr, wie und mit wem wir leben, nicht welche Krankheiten, ReichtĂŒmer oder EinflĂŒsse wir haben.
Ich glaube, dass es das ist, was Jesus in der nÀchsten Szene des Predigttextes meint:
14 Danach fand Jesus (den Menschen, den er geheilt hatte) im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sĂŒndige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. (Johannesevangelium 5)
Jetzt, wo dieser Mensch wieder in Gemeinschaft mit Gott und den Menschen leben kann, soll er dort auch bleiben. Es ist eine Warnung: Nur weil er eben scheinbar alleine aufgestanden ist, heiĂt das nicht, dass er alles alleine kann. Seine Krankheit hat ihn einsam gemacht und sein Selbstvertrauen genommen, aber auch zu viel Selbstvertrauen, das in Selbstbehauptung umschlĂ€gt, macht langfristig einsam, krank und gottlos.
(Vielleicht Musik, 1 Strophe Instrumental vom Predigtlied)
III
Zwei Geschichten, zwei Menschen. Andrea und Martin, beide haben sie etwas von dem kranken Mensch am Teich Bethesda, den Jesus zweimal aufrĂŒttelt. Diese âBefehleâ oder vielleicht auch âTritte in den Allerwertestenâ reiĂen den Mann zuerst aus seiner lĂ€hmenden Stimmung und lĂ€sst ihn aufstehen. Damit er dabei das richtige MaĂ findet, warnt er ihn spĂ€ter vor noch viel Schlimmerem. So aufrĂŒtteln, so warnen, das kann nicht jeder. Oft können das Menschen, die dem erkrankten und einsamen Menschen nicht so nah stehen, besser. Wie zum Beispiel ein Freund von frĂŒher oder auch eine Ărztin. Wenn jemand, den man liebt, in einer Krise einfach sagt âSteh auf!â, dann tut das oft mehr weh als dass der gute und richtige Impuls darin gehört wird. Auch der geheilte Mann vom Teich kennt nicht mal den Namen dessen, der ihn geheilt hat:
12 Die Juden fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?Â
13 Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war. (Johannesevangelium 5)
Der geheilte Mann vom Teich tut, was Jesus ihm sagt. Ob er an ihn glaubt oder ihn erkennt als der, der er ist, steht nicht im Predigttext. Aber er ist geheilt, nicht nur körperlich, auch sein sozialer Makel ist entfernt. Er ist wieder bei den Menschen und bei Gott im Tempel und antwortet den Gelehrten auf ihre Fragen.
Diese interessieren sich jedoch mehr fĂŒr Jesus, der die Sabbatruhe gebrochen hat, als fĂŒr ihn. Jesus tut, was höchstens Gott darf: Am Sabbat sein Werk tun. Dass Jesus sich mit Gott gleichstellt, ist fĂŒr die Schriftgelehrten Blasphemie und nicht zu ĂŒberbieten. Das können die meisten von uns heute schwer nachvollziehen. Welchen Christen ĂŒberrascht es schon, wenn Jesus Gottes Willen tut und Menschen aus ihrer Krankheit und Einsamkeit herausruft. Erst Recht nicht, wenn er es am Sabbat, oder fĂŒr uns am Sonntag, tut. Das ist schlieĂlich der Tag, an dem Gott Jesus aus seinem Totenbett zurĂŒck ins Leben gerufen hat.
Vielleicht geht es Ihnen so wie mir: FĂŒr mich spielt es keine Rolle, durch wen oder was Gott Menschen damals oder heute zurĂŒckbringt in ein Leben mit anderen Menschen. Es spielt keine Rolle, ob es ein guter alter Freund ist, eine Ărztin, eine GrĂŒne Dame oder ein Seelsorger. Hauptsache jemand tut es und Gott gibt âJesusâ oder seine Auferstehungskraft dazu, damit die Menschen diese Worte so hören, dass sie wieder âauf die Beine kommenâ: sozial, seelisch, geistlich und vielleicht auch körperlich.
Ich hoffe, Gott sagt und macht das durch Sie und mich und durch diese Kirche. Am Sonntag, Samstag oder in der Woche, egal wann, egal wie. Mit offenen Augen und Herzen offen, fĂŒr die, die man nicht mehr bei uns sieht. Gehen wir hin, zu den anderen. Und wenn es dran ist rĂŒtteln wir sie so auf, dass sie zurĂŒck finden zu uns oder den ihren. Und wenn uns Einsamkeit und Krankheit selber treffen, dann hoffe ich, sagt auch Ihnen und mir jemand, von dem ich es hören kann, zur richtigen Zeit ein Auferstehungswort: âNimm deine Matte und geh hin.â
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
EG 361, 1, 2,4,7,12 Befiehl du deine Wege
EG 673 Ich lobe meinen Gott der aus der Tiefe mich holt
FĂŒrbitten:
Gott, wir bitten dich fĂŒr die Menschen in unserem Leben,
die chronisch, vielleicht sogar tödlich erkrankt sind.
Geh zu Ihnen und zeig ihnen und uns, welches Leben fĂŒr sie noch gehbar ist.
Gott, wir bitten dich fĂŒr Menschen, die Angehörige pflegen und lieben.
Gib ihnen soviel Liebe fĂŒr sich und andere, dass sie selber in dieser Situation nicht krank werden,
sondern all die Angst, Wut, Einsamkeit und Verzweiflung aushalten können.
Gott, wir bitten dich, gib uns Kraft, auch unertrĂ€glich kranke Menschen weiter zu besuchen. Sei bei uns in der Angst um unsere eigene Gesundheit und gib uns Worte, die anderen Mut machen und aufrĂŒtteln, wenn es an der Zeit ist.
Gott, wir bitten dich fĂŒr alle, die einsam sind oder vor Einsamkeit weglaufen.
Lass sie daran nicht krank werden, sondern ihre Matte nehmen und nach Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe suchen, bis sie sie finden.
Gott, wir bitten dich, hilf uns einen Blick dafĂŒr zu finden, wie wir als Gemeinde und Einzelne Einsamkeit in Gemeinschaft verwandeln können. Segne uns, wenn wir uns aufmachen um eine Kirche zu werden, in der Menschen heil werden.
AMEN