Wo ist Oma jetzt?

Wir sind im Wald, das Wetter ist ostwestfälisch. Meine Mutter schimpft: „Jedes Mal der gleiche Mist!“ Mein Vater fragt vorsichtig: „Wie hatten wir es denn sonst immer gefunden?“ „Den Weg hoch, dann kommt links eine Bank und dann 200 Meter rechts rein, bei den drei Vogelhäusern. DA muss es sein!“. DA, das ist Omas Urnengrab unter einem Baum im Friedwald, einem Ort, an dem Menschen mitten in der Natur bestattet werden können. Wir streifen weiter durch die Bäume. „OMA, wo bist du?“, ruft meine Schwester laut in den Wald.

Ich bleibe stehen, atme die frische Waldluft ein und denke zurück: Was habe ich damals gefleht, als Oma ihren schweren Schlaganfall hatte. Oder als sie gestorben ist: Wie habe ich gehofft, dass es einen Ort geben muss, an dem Omas Leben, ihre wunderschöne Seele heil und ganz und sicher ist, auch wenn es nicht bei uns ist.

Und dann sehe ich plötzlich eine Gedenktafel an einem Baum. Hier liegt nicht Oma, sondern irgendjemand anders begraben: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ steht dort. Ein Bibelvers. Mir wird ganz warm. Oma ist nicht hier im Wald. Sie ist dort, wo es gut ist.  Schnaufend höre ich meine Familie hinter mir. „Hast du es gefunden?“, fragt mein Vater außer Atem. „Ja“, sage ich, gehe fast beschwingt weiter und spüre die irritierten Blicke meiner Familie.