„Die Toten wohnen auf dem Friedhof, 30 Jahre lang, hat mein Cousin gesagt. ABER wohin ziehen sie dann?“ Das Mädchen aus der 4. Klasse der Grundschule guckt mich an. Wir sind zusammen auf dem Friedhof. Die Kinder sollen etwas lernen über unseren christlichen Glauben, über das Leben. Und das Sterben und das Trauern auch.
„Die Toten wohnen auf dem Friedhof, 30 Jahre lang, hat mein Cousin gesagt. Aber wohin ziehen die denn dann?“
„Ja,“ sage ich, „die 30 Jahre, was dein Cousin da gesagt hat, das ist nur die Zeit, die man ein Grab bei uns auf dem Friedhof mieten kann. So lange liegt der Grabstein in der Regel auf dem Grab, mit dem Namen und dem Geburts- und Sterbedatum. Aber die Toten, die wohnen eigentlich woanders. Die leben bei Gott.“
Sie nickt, als wäre das das Normalste der Welt.
Unsere Toten wohnen eigentlich woanders. Wir haben ihre leblosen Körper, ihre Asche in die Erde der Friedhöfe und Friedwälder gelegt, aber sie wohnen an einem anderen Ort.
Unsere Toten ruhen in uns. Sie sind lebendig in der Erinnerung, in unseren Herzen. Ob wir zu Hause Bilder von ihnen anschauen, das geerbte Geschirr benutzen oder eine Melodie im Radio uns an sie erinnert. Ob wir am Grab stehen und mit ihnen reden, fast wie damals, ihnen erzählen, wie es uns jetzt geht, ohne sie.
Wir stehen an den Gräbern unserer Toten, aber sie wohnen nicht in der Erde, sondern in unseren Herzen. Wir stehen mitten im Leben, aber unsere Toten sind auch immer mal wieder da, ganz nah, unter uns, um uns. Als ein Engel, der seinen kleinen Bruder beschützt und die kleine Schwester auch. Als die Gewissheit, dass das Leben gut ist, weil es sie gab.
Unsere Toten leben mit uns, in unseren Herzen und in unserer Erinnerung, so wie sie waren, wie wir sie gekannt haben. Aber sie leben auch bei Gott, so wie sie jetzt sind. Als blühende Pflanzen im Garten Gottes. Manche als rote Rose oder als rosafarbenene Röschen mit Dornen. Manche als Tulpen, gelb oder lila. Manche als Margeriten, manche als Schneeglöckchen, manche als Wilde Möhre oder Fette Henne, manche als Blauregen oder Vergissmennicht. Manche als Mohnblumen oder oder oder und manche vielleicht auch als blühende Kakteen. Wer weiß das. Gott gibt ja jedem Samen, jeder Blumenzwiebel, den Pflanzenkörper, den er für ihn bestimmt hat, schreibt Paulus.
Den Samen, die Toten, von denen wir uns verabschieden mussten, den kennen wir, der lebt in unseren Herzen, in unserer Erinnerung. Aber die neue Pflanze, die wächst aus der Erde heraus, zum Himmel hin, die kennt nur Gott. Wir haben es vielleicht geahnt, was in unseren Toten steckt, in den Sternstunden des Lebens war sehen, was sie bei Gott sind. Sie bleiben sie selbst, sie bleiben wer sie waren und werden doch auch endlich wozu sie bestimmt sind. Aus einem Kürbiskern wächst keine Tomatenpflanze. Es wird nicht alles ganz neu. Aber ein Kürbiskern bleibt auch nicht ein Kürbiskern, wenn man ihn in die Erde legt, sondern eine Kürbispflanze und die trägt Blüten und Früchte.
Wer im Leben gelernt hat, mit wenig zu Leben, bleibt genügsam – und lernt doch ganz neuen Reichtum kennen. Wer im Leben geprägt wurde durch hohe Ansprüche und Arbeit, bleibt ehrgeizig – und wird doch staunen, was alles geschenkt ist. Wer im Leben Abschied nehmen musste von Gesundheit und Eigenständigkeit behält die Erfahrung, das manches nicht verfügbar ist, nicht machbar ist – und wird doch heil und ganz. Wer lustig ist und lebensfroh, bleibt es auf seine ganz eigene Weise und versteht nun aber auch, warum das anderen nicht so möglich ist. Wer schüchtern ist und zurückhaltend, bleibt auch das, aber wird auch frei, mal laut und groß und alles zu sein.
Wer auf Erden erlebt hat, wie sich Krieg, Gewalt und Vertreibung anfühlen, findet Frieden und Heimat bei Gott.
Alles wird anders für unsere Toten und uns, wenn wir sterben. Es bleibt, was war und wird doch verwandelt. Der Samen muss sterben, damit die Pflanze leben kann. Der Same muss in die Erde, durch das Dunkel, durch die Kälte hindurch, damit der Mensch wachsen und grünen und blühen und Früchte bringen kann.
Die Toten wohnen nicht 30 Jahre auf dem Friedhof, auch nicht 60 oder 120 oder 240 oder 480. Auf dem Friedhof, in den Friedwäldern ist unser Ort, wo wir sie erinnern können, die Erde schmücken können mit Pflanzen in Hoffnung, dass auch unsere Toten bei Gott in voller Blüte stehen.
Der Friedhof ist der Ort, wo wir ihre Namen in Stein meißeln, für immer, nicht vergessen, nicht auszuradieren, zumindest für 30 Jahre oder wie lange wir dafür bezahlen mögen.
Die Toten wohnen vielleicht 3 Tage auf dem Friedhof, 3 Tage allerhöchstens.
Wie der gekreuzigte, gestorbene und begrabene Jesus. Wie im Lukasevangelium 24 steht:
Am Sonntagmorgen dann, in aller Frühe, nahmen die Frauen die wohlriechenden Öle, die sie sich beschafft hatten, und gingen zum Grab. 2 Da sahen sie, dass der Stein vom Grabeingang weggerollt war. 3 Sie gingen hinein, doch der Leichnam von Jesus, dem Herrn, war nicht mehr da. 4 Während sie noch ratlos dastanden, traten plötzlich zwei Männer in strahlend hellem Gewand zu ihnen. 5 Die Frauen fürchteten sich und wagten sie nicht anzusehen; sie blickten zu Boden. Die beiden sagten zu ihnen: »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? 6 Er ist nicht hier; Gott hat ihn vom Tod auferweckt!
Jesus war nicht mal 3 Tage tot, nicht mal 3 Tage bestattet, wohnte nicht mal 3 Tage im Grab, da begann für ihn schon die neue Zeit, Gott rief ihn aus den Toten, damit das neue Leben, das ewige Leben blühen kann. Das gilt auch für unsere Väter und Mütter, Omas und Opas, Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, Freunde und Freundinnen:
(Joh 5, 25 )Amen, ich versichere euch: Die Stunde kommt – ja, sie ist schon da –, dass die Toten die Stimme des Gottessohnes hören werden, und wer sie hört, wird leben.
Unsere Toten wohnen nicht auf dem Friedhof, sondern blühen bei Gott. Wenn Sie gleich zu den Gräbern gehen, mit einer roten Rose, dann ist dort der Ort, wo wir sie finden, wie sie waren, in unseren Herzen und Erinnerungen.
Wenn sie genau hingucken, auf manchen Gräbern, da stehen Engel. Und wenn sie genau hinhören, an den Gräbern: „Sucht nicht die Lebenden bei den Toten.“