Enge blaue Jeans, mein erster Blazer, meine ersten hohen Schuhe, mein erster Schmuck aus Gold. Vor zweiundzwanzig Jahren im Gemeindehaus. Der Pfarrer trägt eine Albe, ein weißes gottesdienstliches Gewand, neben mir stehen Lydia und Lydia. Es ist Konfirmationssonntag, aber unsere Taufe kommt zuerst. Kurz bevor ich meinen Kopf über den Taufstein halte, kommt mein katholisch sozialisierter Vater zu mir nach vorne gelaufen, damit er besser sehen kann, was passiert. Meine Mutter hat mit ihrer Freundin den Gottesdienst inhaltlich vorbereitet, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten ist, aber da der Pfarrer gerade von der Gemeindeleitung abgesetzt wird, ist das eine ziemlich gute Lösung.
Wie ein Baum, der an einem Fluß gepflanzt ist, wie ein Mensch nah an der göttlichen Quelle, werden wir sein (Ps 1). Deswegen wird auch ein Apfelbaum neben dem Parkplatz der Gemeinde gepflanzt. Alles geht so schnell, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir den Baum selbst gepflanzt haben. Aber immer wenn ich dort vorbeifahre, muss ich lächeln. So ein wunderbar schiefer Baum! Und trotzdem trägt er Früchte! Ein Baum so schief, wie so einiges rund herum um meine Taufe schief lief und trotzdem genauso war, wie ich es mag.
Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass an diesem Tag, am 27.4.1997, das Einzige passiert ist, das mir niemand nehmen kann. Nicht die Dusche an diesen Abend, die das Taufwasser endgültig aus meinen Haaren wäscht, nicht ich selbst, nicht der Tod. Nicht mal der falsche Eintrag im Kirchbuch und die Taufurkunde, die ich verloren habe. Viel ist in den letzten zweiundzwanzig Jahren passiert. Ich habe die Bibel wörtlich verstanden und als Glaubenszeugnis gelesen. Ich habe Gott als Herrn angeredet oder nur noch als Du nachdem klar war, Gott ist kein Mann. Und monatelang angeschwiegen habe ich Gott auch. Das tat Gott ja schließlich auch – gleiches Recht für beide. Ich dachte, ich hätte Gottes Willen erkannt und andere hatten Visionen für mich. Ich habe meine Oma beerdigt und bin verlassen worden. Ich habe mich getrennt und mich verrannt. Ich habe mit Christen zusammen gelebt und Atheisten mehr geliebt. Ich habe in der Kirche Freunde für Leben und Arbeiten gefunden und Feinde auch. Ich habe Theologie studiert und bin Pfarrerin geworden. Lange war das das Einzige, was ich in meinem Leben richtig gewollt habe. Ich habe viele Möglichkeiten gehabt und bin bitter enttäuscht worden. Mein Glaube ist gewachsen und hat sich entwickelt, aber nicht selten habe ich mich auch hoffnungs- und lieblos gefühlt. Und doch, immer wieder, bei Prüfungen, in Angst und Schmerz habe ich mir den dicken goldenen Ring über den Mittelfinger gezogen, in dem mein Taufspruch steht: „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt der bleibt in Gott und Gott in ihm. (1.Joh 4,16b).“ Ein Mädchenspruch sei das, hat der Pfarrer mir gesagt. Als Frau mit sechsundreißig weiß ich, dass „in der Liebe bleiben“ das Schwerste und Schönste ist, was es gibt. Und zwar jeden Tag wieder. Denn Gott ist die Liebe, nicht ich. Gott ist da und nah und bleibt, seit Ewigkeiten und zweiundzwanzig Jahren. Ich laufe weg und komme wieder, um zu bleiben, immer wieder. Da ist der Ring an meinem Finger und das, wofür er steht, manchmal das Einzige, was mich trägt. Mein Ring ist so dick und schwer, ich kann ihn sogar spüren, wenn ich ihn nicht trage. Meine Taufe trägt mich, auch wenn sich alles andere, Leben inklusive Gott und Kirche, unwirklich anfühlt.