Interreligiöses Potential

Frühstück in der Jugendherberge. Ich setze mich schwungvoll an den für unsere Pfarrerfortbildung reservierten Tisch. Strahlend wünsche ich meiner Kollegin einen guten Morgen. Nur, das ist gar nicht meine Kollegin, ich gucke wohl einen Moment lang irritiert. Die Frau, die meiner Kollegin von hinten so ähnlich sieht, guckt böse zurück: „Wir sind hier nicht die Zeugen Jehovas.“ „Nein,“ sage ich und lächele, „wir sind hier nur die evangelische Kirche.“ „Ach, alles gleich schlimm. Alles richtig gleich schlimm.“ Sie wendet sich ab. Mir fällt die Gruppe junger Studenten in Anzügen ein, die hier gerade ein Seminar über Unternehmensberatung machen. Da haben wir uns wohl beide vertan. Die Frau mit ihrer Tischwahl und der Einschätzung, die angehenden Unternehmensberater wären Zeugen Jehovas. Ich damit, sie wäre meine Kollegin und der Einschätzung, man könnte mit Freundlichkeit und evangelischer Kirche noch was gut machen. Schade, kein schöner Start in den Tag. Und vor allem diese Aussage „Alles richtig gleich schlimm“, diese Sekten und Religionen. Wie schnell ich das vergesse, dass so viele Menschen uns so erfahren. Im Geschichtsunterricht im Fernsehen. Uns so erleben. Im Elternhaus oder in der eigenen Gemeinde. Kriege im Namen Gottes haben ganze Völker auszulöschen versucht und religiöse Gewalt vielen zarten Seelen Höllenqualen bereitet. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Aber ich habe das Glück, es anders zu erleben. Ich genieße es, in einem ehrenamtlichen interreligiösen Zeitungsprojekt mitzuarbeiten. Ich kann immer nur wieder über uns staunen. Über Rabeya, Muslimin und  Imamin, Lara – Jüdin und Anne – Katholikin und all den anderen Frauen. Vieles haben wir gemeinsam, merke ich. Den Frust über robuste patriarchale Strukturen oder Meinungsführer mit alleinigem Deutungsanspruch. Aber vor allem die Lust an unseren Festen und Traditionen, den Ritualen, den Texten, die uns Kraft geben, Mut und Identität. Wenn wir zusammen arbeiten, dann werde ich mir selbst fremder. Gewinne einen neuen Blick auf meine Bilder und Vorstellungen von den anderen und mir selbst, meinem Gott und meinem Glauben.  Wenn wir zusammen trauern, was unsere radikalen Strömungen sich gegenseitig angetan haben, klagen, wie wir medial und politisch gegeneinander ausgespielt werden, dann komme ich den anderen näher. Und wenn wir miteinander lachen, über all den irrsinnigen Schwachsinn und die tollen gemeinsamen Projekte sowieso. Dann spüre ich in mir das Gefühl wachsen, dass wir alle gleich gut für diese Welt sein könnten und es auch schon sind. Weil unsere Religionen uns die Liebe zu den Menschen ins Herz gepflanzt haben und wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass die Gerechtigkeit für alle blüht. So zusammen zu arbeiten, zu trauern, zu klagen und zu lachen ist herausfordernd, inspirierend und heilsam zugleich, mit all den kleinen Irritationen, den enttäuschten Hoffnungen und den großen Verheißungen. Das muss man wollen. Aber dann kann man erfahren: Wir sind nicht alle nur schlimm. Wir sind auch nicht alle gleich. Und wir sind auch nicht alle immer gut. Aber gemeinsam haben wir echt Potenzial.