Jerusalem vor 2000 Jahren. Wie war das wohl für den jungen Israeliten, wenn ein römischer Soldat ihn zwang, eine Meile mit ihm zu gehen und sein Gepäck zu tragen? Ich würde ihn am liebsten fragen.
Was ging wohl vor in der jungen Frau, die einmal gesagt hatte, was sie richtig fand? Und ihr älterer Bruder sie dafür schlug. Mit dem Handrücken auf die rechte Backe, vor den anderen. Damit klar war, wer das Sagen hat. Ich würde mich gerne zu ihr setzten.
Wie mag es gewesen sein für den armen Bauern, kurz vor dem Prozess? In dem seine Schuldner das Recht hatten, auch noch sein letztes Hemd von ihm zu fordern? Das würde ich gerne wissen.
Schicksale. Lebensgeschichten. Vor 2000 Jahren.
„Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte auch die andere hin.
Und wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Hemd zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei.“
Hinter den Sätzen der Bergpredigt tun sich Welten auf. Hinter Jesu knappen Worten verbergen sich nicht selten ganze Lebensgeschichten und -schicksale.
Wie diese heute bei uns aussehen könnten, dazu möchte ich Ihnen beispielhaft fünf Geschichten erzählen. Fünf Versuche einer Übersetzung. Jedes Mal eine andere Welt. Und eine neue dahinter.
Jesus sagt: Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.
Predigt Teil 1b
Sechs Tage Zusatzausbildung. Zur Notfallseelsorgerin. Wie lange hat Lea sich darauf gefreut, dafür gespart, Geld und Urlaubstage. Das Motivationsgespräch zitternd überstanden, aufgeregt angereist und dann das: Schon am ersten Tag, dieses komische Gefühl, irgendwie meiden sie drei der anderen Seminarteilnehmerinnen. Oder machen Bemerkungen, vor den anderen, und witzig sind sie eigentlich nicht. „Hoffentlich passiert nix, wenn DU Dienst hast,“ hallt es abends im Bett in Leas Ohren nach. Oder: „Interessant, was du dir da angelesen hast, aber wir arbeiten eben nicht in der Großstadt.“ „Man weiß nie, wie du das meinst, du zeigst ja gar keine Gefühle.“ Als Lea irritiert rausgeht, um mal Luft zu schnappen, geht niemand hinterher. Keiner sagt was, schreitet ein. Eine Seelsorgerin, die keine Gefühle zeigen kann, die man nicht versteht, ist eine schlechte Seelsorgerin, das ist klar. Aber haben die anderen überhaupt Recht? Ihre Freundin am Telefon sagt: „Die spinnen, die fühlen sich angegriffen, weil du so jung bist, du schon soviel weißt. Oder du so ein süße Nase hast.“ Sie lachen. Das hilft. Lea fühlt sich zwar weiter wie im falschen Film, aber hält durch, nie dagegen. „Ich lerne schon trotzdem genug, darauf kommt es an,“ sagt sie sich. Und: „Es wird schon besser werden. Wenn wir uns erstmal besser kennen lernen.“ Aber die Tage vergehen und dann sitzen sie zusammen in der Schlussrunde. Lea hat entschieden, nicht nur über Ihre Erfolge zu reden, sondern auch über den Umgang miteinander und das, was sie getroffen hat. Als sie fertig ist, sagt niemand etwas. Alles umsonst, denkt sie.
Als sie rausgeht, sagt eine der anderen: „Naja, du willst das ja auch nur ehrenamtlich machen.“
Lea merkt, wie es brennt in ihren Augen, in der Kehle, von der Klatsche, die sie da grad noch mal schnell zum Abschied kassiert hat. Endlich im Auto denkt sie: „Ich bin wohl nicht ganz von dieser Welt! Wenn mir eh jemand dauernd eine reinwürgt, zeig ich mich auch noch verletzlich!“
Drei Jahre später steht auf dem Kongress der Notfallseelsorge plötzlich eine der Frauen von damals vor ihr und lächelt sie an: „Na!? Dein Vortrag eben hat mir gefallen. Du warst ja schon damals was Besonderes. Das hat mich beeindruckt, wie du dich nicht hast verunsichern lassen.“ Lea muss schlucken und entschuldigt sich bald auf die Toilette. Vorm Spiegel sieht sie auf und lächelt sich an. „Ja, ich bin mir treu geblieben,“ denkt sie.
Lied: Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, ein Licht auf meinem Weg. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, ein Licht auf meinem Weg. 2x
Predigt Teil 2a
Julia ist auf der Suche nach Ideen, die Zeit drängt. Sie starrt auf den weißen Computerbildschirm. Heute Abend will sie beim Poetryslam in der Kirche antreten. Mit eigenen Sätzen mit anderen Poeten in Wettstreit treten. Alles unter dem Thema: Kleider machen Leute. Aber sie findet einfach keine Worte dazu und in der Kirche war Julia auch schon lange nicht mehr. Aber sie will unbedingt was schreiben, das zum Raum passt, sie will was sagen mit Bedeutung. „Die Bibel sagt doch zu allem was, da muss ich doch auch was zu Kleidung finden können!“ Sie sieht ihren roten Mantel an der Tür hängen und gibt „Mantel und Jesus“ in die Suchmaschine im Internet ein.
Jesus sagt: Wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Hemd zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel.
Predigt Teil 2b
Julia schluckt. Und sucht weiter und findet noch mehr solcher irrer Forderungen in der Bibel. Als gäbe es keine Egos, keine Blicke, kein Morgen. Irre. Irre schön. Die Wörter fließen aus ihr heraus und dann steht sie abends aufgeregt im Altarraum und slammt:
Kleider machen Leute?
Leute machen Kleider in Gottes Welt,
zum Schutz und zum Spaß
Stricken, stopfen, sticken bis es allen gefällt.
Jesus, Gottes verdrehter Held, fordert eine verkehrte Welt.
In der nicht Recht ist was geschrieben steht oder gesagt wird,
so allgemein und generell.
Wo gilt:
Wenn jemand Recht hat auf dein Hemd,
gib ihm auch deinen kostbaren Mantel mit Fell.
Wenn jemand Recht hat bei dir auf Wohnraum,
dann näh ihr auch Gardinen mit verziertem Saum.
Wenn jemand Recht hat auf dein Brot,
dann gib ihm auch Butter und Käse in seiner Not.
Wenn jemand Recht hat auf Integration,
dann sei ihr auch Freundin nachts am Telefon.
Und halte sie ihm Arm, wenn sich nach ihrem Land sehnt trotz allem.
Wenn jemand Recht hat auf Sprachunterricht und Bildung,
dann gib ihm auch Raum für Entwicklung und Freiheit.
Ohne Wenn und Aber und Diskussion und Rechtsstreit.
Ohne Hemd und Mantel mit Fell.
Und doch unbesiegbar.
Mit Schuhen, die so weit tragen, wie der Friede Gottes reicht.
Allein mit dem Schild des Glaubens und dem Panzer der Gerechtigkeit,
allein mit dem Helm der Rettung und dem Gürtel der Wahrheit.
Denn Gottes verkehrte Welt ist schon da.
Lied: Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, ein Licht auf meinem Weg. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, ein Licht auf meinem Weg. 2x
Jesus sagt: Wenn dich einer zwingt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei.
Predigt Teil 3
Paul öffnet die Tür. Dahinter lebt der General. So nennen sie alle Frau Becker, 89 Jahre alt, bettlägerig und erblindet. Was sie körperlich nicht mehr kann, macht sie anders wett. Ihre Stimme: Laut und schrill. Ihr Kopf: topfit, merkt sich alles. Und hören kann sie wie ein Luchs. „Sie sind zu spät! Immer sind sie zu spät!“, herrscht Frau Becker Paul an. Paul seufzt. „Oh doch, zu spät sind Sie.“ „Ja, Frau Becker, guten Abend“. „Was soll das schon für ein guter Abend sein, hier in dieser Baracke. Christliches Pflegeheim! Pah!“ Frau Becker kommandiert Paul rum, wie jeden Tag. „Nicht so viel Zahnpasta! Geben Sie mir meine Tabletten!“ Er weiß, was er zu tun hat. Auf die Minute genau weiß er das. Was ist nur aus meinem schönen Beruf geworden. Bloß so schnell wieder raus aus diesem Zimmer wie möglich. „ Sie haben gestern vergessen, mir die die beige Tablette zu geben. Die ist lebenswichtig für mich. Sie wollen mich wohl umbringen!!!“ Hektisch guckt Paul in das Pillendöschen. Tatsächlich. „Das tut mir sehr leid, Frau Becker, sie werden keinen Schaden nehmen, wenn Sie heute einfach die nächste nehmen.“ „Das sagen sie so einfach. Ich werde mich bei der Heimleitung beschweren, wenn Sie mir nicht etwas entgegenkommen.“ Sie guckt triumphierend. Paul guckt aus dem Fenster „Was muss ich denn für Sie tun, Frau Becker, damit sie mir wieder grün sind?“ Frau Becker atmete ein. Öffnet die Schublade, holt ein Buch heraus. „Pippi Langstrumpf, das hat mein Enkel so geliebt. Sie lesen mir jeden Tag vor. Ein kleines Kapitel nur.“ Paul ist sprachlos. „Ich habe gar keine Zeit, ich komme zu spät nach Hause, ich will einmal einen ganzen Abend mit meiner Frau.“ Er nimmt das Buch: „Erstes Kapitel. Pippi zieht in die Villa Kunterbunt ein. Außerhalb der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt, und sie wohnte ganz allein da.“ … Paul liest und liest. „Zweites Kapitel. Pippi wird Sachensucher und gerät in eine Prügelei.“ … er liest weiter und weiter. Fast wehmütig spricht er den letzten Satz: „Man weiß nicht“, sagte Thomas. „Bei Pippi weiß man eigentlich niemals was.“ Aus dem Augenwinkel sieht Paul noch wie Frau Becker lächelt. Nur um sich dann wieder aufzurichten: „Morgen machen Sie das wieder!“ „Ja, Frau Becker, das mache ich.“
Paul verlässt das Zimmer, läuft den Flur entlang, natürlich soll man das nicht. Aber man muss, wenn man es eilig hat und gerade Pippi Langstrumpf gelesen hat. Er kommt fünfzehn Minuten zu spät nach Hause. Er erzählt, warum. „Und“, fragt seine Frau, „was hat dir das jetzt gebracht?“ „Keine Ahnung.“ Paul schüttelt grinsend den Kopf. „Meinst du aus dem General wird jetzt ein zahmes Lämmchen?“ Paul lacht: „Bei Frau Becker weiß man eigentlich niemals was.“
Lied: Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, ein Licht auf meinem Weg. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, ein Licht auf meinem Weg. 2x
Predigt Teil 4a
Elisabeth steht im Supermarkt und rechnet, die Rente ist knapp: „Soll ich mir den guten Käse gönnen oder lieber nicht?“ Sie zögert. Auf dem Nachhauseweg stehen wieder die Jugendlichen an der Straßenecke, wo sie immer stehen. Sie schaut nicht hin. Die Einkaufstasche liegt in der Mitte auf ihrem Rollator. Schritt für Schritt geht sie den Weg nach Hause. Ihr Sohn wird heute nicht kommen so wie früher immer samstags. Morgen ist schon wieder Sonntag, Gott sei Dank.
4 Jesus sagt: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen
Predigt Teil 4b
Elisabeth sitzt im Gottesdienst und denkt: „Ich habe gar keine Feinde. Keine offensichtlichen zumindest. Nicht, dass ich wüßte. Und doch fühle ich mich oft wie unter Beschuss. Und ich weiß nicht mal, wer mich da angreift. Erstmal müsste ich meine Feinde kennen. Lernen, wer mich angeht, mir alles nehmen will.
Die Politikerinnen, die mir eine Rente beschließen, zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig? Nein, meine Enkelin soll auch was für sich haben.
Der neue Pfarrer, der mir den Gottesdienst vermodernisiert, damit auch die jungen Leute mitsingen mögen? Nein, das hätte ich mir als junge Frau auch gewünscht.
Der Arzt, der mir die Hoffnung nimmt, noch lange in meiner Wohnung bleiben zu können? Nein, das ist das Leben, das mir noch bleibt.
Die Jugendlichen, die mir Angst machen mit ihrem lauten Lachen, wenn es abends dunkel wird? Nein, das ist einfach nur meine Unsicherheit.
Mein Sohn, der weggezogen ist wegen der neuen Stelle und mich hier einsam zurücklässt, gerade jetzt, wo mein geliebter Willi tot ist? Nein, ich bin einfach nur allein.
Die Flüchtlinge, die so anders leben als wir, ihre Religion, wie Männer und Frauen miteinander umgehen, die Eltern mit ihren Kindern? Nein, wer weiß, ob das alles so stimmt. Ich müsste mal mit den jungen Ausländern selber reden, sie kennenlernen, damit wir niemals Feinde werden.“
Elisabeth schaut auf, ist zurück aus ihren Gedanken über sich und die anderen, zurück im Gottesdienst. Der Pfarrer schaut in ihre Richtung und sagt: „Ein Gebet ist ein Anfang.“ Elisabeth flüstert ein Amen.
Jesus fragt: Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr da erwarten?
Predigt Teil 4c
Er schnauft verächtlich. Carsten kann sich kaum ruhig halten in der Kirchenbank: „Mir würde es ja schon reichen, wenn mich lieben würde, wen ich liebe. Das ist doch Lohn genug!“ Aber Daniela, das spürt er, will ihn nicht. Das ist so unfair, da kann er gar nichts tun. Nur warten, bis die Sehnsucht aufhört.
„Was muss das für eine Liebe sein, die nicht aufhört, wenn sie nicht erwidert wird? Nicht so ein romantisches Frauen-Männer Ding auf jeden Fall. Etwas großes, göttliches, unendlich fließendes, egal was passiert. Etwas mit Sinn. Bedeutung. Ein höherer Plan, für den es sich lohnt, Niederlagen nur als kleine Rückschritte zu verbuchen auf dem Weg zum großen Ziel. Ein höherer Plan, den man einfach weiterverfolgt. Schritt für Schritt. Gebet für Gebet. Entscheidung für Entscheidung. Weil es keine Alternative gibt. So was wie der Weltfrieden.“
Carsten denkt nach: „Was müsste man die Menschen dafür lieben! Alle, die Bösen und die Guten. Was wäre das für ein höherer Plan?! Was ist das für eine höhere Liebe?!
Ich wäre gerne Teil davon.
Schritt für Schritt. Gebet für Gebet. Entscheidung für Entscheidung.
Immer wieder, zurück, weiter, höher. Solange bis er da ist.“
Das waren sie: Fünf Versuche einer Übersetzung. Jedes Mal eine andere Welt. Und eine neue dahinter.
Von Lea, der Notfallseelsorgerin. Sie bleibt sich treu. Hält durch und nicht dagegen. Denn wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte auch die andere hin.
Von Julia, die so gerne schreibt und slammt, auf Bühnen oder in Kirchen, irre, als wäre die Welt eine andere. Denn wenn dich einer vor Gericht ziehen würde, um dein Hemd zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel.
Von Paul, dem Altenpfleger. Er liest Frau Becker Pippi Langstrumpf vor. Nicht nur ein Kapitel. Denn wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei.
Von Elisabeth, der älteren Dame. Das Leben setzt ihr zu. Aber Feinde hat sie nicht. Denn sie liebt die anderen schon auf ihre Weise, und betet für die, die ihr das Leben schwer machen.
Von Carsten, dem jungen Mann in der Kirchenbank. Mit Daniela wird es nichts. Aber er wäre gerne Teil einer höheren Liebe, die niemals aufhört, die allen Menschen gilt, damit Friede wird. Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr da erwarten?