Er stirbt und stirbt einfach nicht. Überlebt. Körperlich die Attacke der Grizzlymutter, seelisch den feigen Mord seines einzig verbliebenen Sohnes. Notdürftig zusammengeflickt, ohne Proviant und Munition, vollkommen verlassen und immer wieder von kriegerischen indigenen Völkern umzingelt, müsste er schon einige Male tot sein. Aber eine unglaubliche Kraft lässt ihn in der unerbittlichen amerikanischen Wildnis des siebzehnten Jahrhunderts weiter atmen, kriechen, kämpfen. In „The Revenant-der Rückkehrer“ spielt Leonardo DiCaprio oscarprämiert einen Trapper, der nicht nur weiß, wie er überlebt, sondern auch wofür: Rache. John Fitzgerald darf nicht damit durchkommen, dass er seinen Sohn getötet hat. Und so lebt Hugh Glass weiter bis John Fitzgerald tot ist. Rache als Überlebenskraft – lange hätte ich das abgestritten. Mir ist aber auch noch nie etwas wirklich Böses passiert. Doch dann saß Jördis auf meinem Sessel, sie wütet: „Und wenn ich mein Urlaubsgeld dafür opfere. Ich engagiere einen Privatdedektiv und dann schicke ich seiner Freundin die Briefe, die er mir geschrieben hat. Ich muss nur noch aussuchen, welche.“ Sonst ist Jördis sanft und klug und stark. Monatelang musste er um sie werben, sie wollte erst nicht. Hatte sowieso eine schwere Zeit. Doch dann hat sie Ja gesagt. Ja, zu einem Treffen, Ja, zu einem Kuss. Ja, zur Liebe. „Weißt du, ich hätte meine Seele aufgerissen, vor Glück, um ihm näher zu sein. Und dann geht einfach wieder zurück zu seiner Exfreundin. Denn sie wohnt nebenan und ich zwei Stunden entfernt.“ Was für ein schmerzhafter Schwachsinn. Jördis tobt weiter: „Es war ihm völlig egal, wie es mir geht oder er hat es wissend in Kauf genommen. Monatelang. Damit darf er nicht durchkommen.“ Sie ist unglaublich verletzt, aber strotzt vor Energie. Ich denke, das bringt ihr doch nichts, wenn sie ihm und seiner Freundin auch noch wehtut. Aber was wäre, wenn sie diese Kraft jetzt nicht hätte? Nicht fühlen dürfte, dass er verdient hat, was er ihr angetan hat? Vielleicht braucht sie das gerade. Rache als Erste Hilfe für die Seele, die anders gerade nicht überleben kann. Ich wage ein Gedankenexperiment: „Was wäre, wenn Gott für dich Rache nehmen würde?“ „Das macht der liebe Gott nicht.“ „Was wäre wenn! Wenn er ihn richtig fühlen lassen würde, was er getan hat?“ Sie überlegt: „Na dann müsste ich nicht mehr aussuchen, welchen seiner Briefe sie am meisten kränkt. Ich würde seine ganzen schönen Lügen nicht mehr lesen … .“ „Und lieber einen schönen Urlaub planen.“ „Irgendwann vielleicht.“ Und so hat Jördis es dann gemacht, sich vorgestellt, dass Gott eingreift und sagt: „Die Rache ist mein.“[1] Und sich nicht mehr so viel mit ihrem Exfreund beschäftigt. Weh getan hat es immer noch. Aber so hat sie überlebt, ohne eigene Rache zu nehmen. Sie war aber auch nicht so allein wie Hugh Glass im Wilden Westen. Und Jördis konnte sich auch noch vorstellen, dass das Leben wieder schön wird. Hugh Glass hat nur überlebt, um John Fitzgerald zu töten. Daran ist er letztendlich gestorben. Jördis hat an Gottes Rache geglaubt, um nach ihrem Liebeskummer weiter zu leben.
Wenn es den rachsüchtigen Gott gibt, dann nur um unserer Seele Erste Hilfe zu leisten, glaube ich.
[1] 5. Mose 32, 35