Judas – „Diese Geschichte ist niemals geschehen und sie geschieht doch alle Tage“
Andacht für den Pastoralkonvent Hamm 8.3.2023
Manchmal ertrage ich die Bibel nicht. Zuviel Text of Terror. Zuviel Wahrheit.
Und dabei war ich so freudig gewesen, mal wieder ganz kurz in eure Welt der vorgeschlagenen Predigttexte einzutauchen. Aber dann – ich hätte es mir denken können, es ist schließlich Passionszeit – wieder ein furchtbarer Text.
Judas küsst Jesus im Garten Gethsemane, aber diese Annährung, dieser Kuss ist alles, was ein Kuss nie sein soll. Ein riesiger Fehler, ein vorsätzlicher Verrat.
Mich hat Judas Geschichte in den letzten 10 Tagen nicht losgelassen. Habe alle Bibelverse über Judas gelesen und immer wieder gedacht – das ertrage ich nicht. Und es kam mir der einzige Satz in den Kopf, den ich aus einer Predigt je behalten habe. Rüdiger Lux hat ihn über die Versuchung Abrahams oder Nichtopferung Isaaks in der Karwoche 2004 gesagt: „Diese Geschichte ist niemals geschehen und geschieht doch alle Tage.“
Ich hoffe, diese Geschichte von Judas ist niemals geschehen.
Diese Geschichte von Judas, von dem geschrieben steht, dass eine dunkle Kraft von ihm Besitz ergreift und er zu der religiösen Elite und den römischen Militärs geht, um Jesus für Geld zu verraten (Lk 22,3-6). Diese Geschichte von Judas, der mit Jesus beim Passahmahl liegt und hört, dass Jesus sieht, was in ihm vorgeht, dass Jesus ihm den Kelch reicht – für euch, auch für dich, vergossen (Lk 22, 20). Diese Geschichte von Judas, dem Jesus ins Gesicht sagt: Dem Menschen, der mich verrät, wird es schlecht ergehen (Lk 22, 22). Die Geschichte von Judas, der trotzdem wie fremdbestimmt die um ihre Macht Fürchtenden zu Jesus führt und ihn mit einem Kuss verraten will (Lk 22, 47). Diese Geschichte von Judas ist für mich mit das Hoffnungsloseste, was das Griechische Testament zu bieten hat. Warum? Diese Geschichte hätte nie passieren müssen. Diese Geschichte fügt nichts Substantielles hinzu. Die schlafenden Jünger und der verleugnende Petrus verdeutlichen genug, wie sehr wir unsere Treue zu Jesus und dem Reich Gottes überschätzen. Der Verrat der anderen Jünger zeigt völlig ausreichend, wie sehr wir Gott, einander und uns selbst verraten, und Gott trotzdem treu ist. Diese Geschichte verleitet dazu, zu sagen, dass Judas Jesus am meisten verrät. Als hätten die Militärs Jesus nicht auch so finden können, als hätten die religiösen Führer Jesus sonst am Leben gelassen. Judas Verrat ist so tragisch wie überflüssig. Und überhaupt – ist jemand schuldfähig, in den eine dunkle, satanische Kraft gedrungen ist (Lk 22, 3 und 22, 22)?
Ich hoffe, diese Geschichte von Judas ist nie geschehen, und ich weiß, sie geschieht doch alle Tage.
Dass jemand einen furchtbaren, überflüssigen Fehler macht. Vor allen. Nicht mehr er selbst ist. Alles verrät, wofür er mal stand. Und kaum glauben kann, welche Konsequenzen das eigene Handeln hat.
Was nicht alle Tage passiert, ist, dass jemand seinen Fehler erkennt und versucht, damit zu leben. Judas bring das Geld zurück und gesteht den Hohepriestern und Ältesten, dass er falsch liegt, dass er unschuldiges Blut ausgeliefert hat (Mt 27, 3). Es bringt nichts, weder für Jesus, noch für ihn. Sie nehmen sein Geld nicht zurück, sie nehmen ihm seine Schuld nicht ab. Völlig falsche Adresse. Und Judas nimmt sich das Leben. (Mt 27, 5) Oder es zerreißt ihn – je nach Erzählung (Apg 1, 18).
Das ist es, was ich nicht ertragen kann. Dass der, der die richtige Adresse kennt, sich nicht darauf besinnt. Und dass niemand da ist, um ihn an Jesu Vergebung zu erinnern.
(Lied)
Ich hoffe, dass diese Geschichte so nie passiert ist. Ich kann nicht ertragen, dass Judas so stirbt. So untröstlich, so voller dunkler, satanischer Kraft. Weil es unnötig ist. Ich glaube, dass Jesus Judas schon im Abendmahl vergeben hat, bevor er ihn ausgeliefert hat. Ich glaube das für jeden Menschen und für jede Schuld, so schlimm sie auch ist. Weil ich den Terror der Welt sonst nicht ertragen kann.
Ich hoffe es: Diese Geschichte ist so nie passiert. Ich weiß es: Diese Geschichte passiert so alle Tage. Aber ich bitte um ein anderes Ende. Für Judas, für dich und mich. Für unsere Kirche und Gesellschaft. Ich bitte um ein anderes Ende, denn wenn wir fürchten müssen, dass wir uns selber verlieren können, dass unsere Schuld uns körperlich oder seelisch zerreißt, dann werden wir nicht aus unseren Fehlern, Irrtümern und unserem Verrat lernen und schon gar nicht damit leben können. Dann werden wir auch nicht den Mut haben, unsere Schuld einzugestehen, nicht vor anderen, nicht vor Gott und schon gar nicht vor uns selbst, aus Angst, daran zu sterben. Satanischer Geist, Vorbestimmung hin oder her, Petrus und die anderen Jünger, die Kirche, du und ich – wir sind auch oft einfach nur bei uns und nicht bei Jesus und all seinen geringsten Geschwistern. Wir irren und wir verleugnen, wir suchen unseren Vorteil und halten an unseren Privilegien fest. Manchmal schäme ich mich so, dass ich am liebsten im Erdboden verschwinden möchte – aber sterben möchte ich nicht. Simul iustus et peccator, das sagt sich so einfach und es lebt sich so schwer.
Meine Überzeugung ist, dass Veränderung leider nur durch Leid und Liebe entsteht. Theoretische Lehren und Richtigkeiten allein bringen uns nicht weiter. Das ist meine Erfahrung, passend zum heutigen Tag. Wenn ich mich mit Sexismus in der Kirche beschäftige oder mit den Vorteilen, die das Patriarchat auch für mich bereithält. Wenn ich mich mit den Privilegien beschäftige, die ich habe, weil ich ein weißer Mensch bin. Und nicht aussehe wie eine Muslimin und deshalb alltäglich diskriminiert werde (Damit beschäftigen wir uns gerade in der Jugendkirche – gegenwärtig steht die Ausstellung Exit Racism in der Kirche, in der die Andacht gehalten wird.) Leider ist das so, dass es immer wieder richtig weh tun muss, damit sich um der anderen Willen und auch um meiner selbst etwas ändert.
Selbst wenn diese Geschichte so nicht geschehen ist aber alle Tage wieder geschieht, nur eben mit einem anderen Ende, dann wird es uns oft ergehen wie Judas, der zu den Priestern und Militärs läuft und seine Schuld gesteht: Manches kann man nicht wieder zurücknehmen oder gutmachen und in den allermeisten Fällen sind Menschen froh, wenn andere Schuld noch größer scheint als die eigene. Vor allem aber werden wir erfahren: Vergebung gibt es nicht überall.
Aber was, wenn es ein anderes Ende gäbe: Was, wenn Judas sein Geld verzweifelt in den Tempel wirft und wie blind hinausläuft (Mt 27, 5). Was, wenn das genau der Zeitpunkt ist, an dem Petrus bitterlich weinend aus dem Hof des Hohenpriesters kommt (Lk 22, 62). Was, wenn Judas in seinen Freund hineinläuft und sie sich beide so sehen wie sie sind. Was, wenn Petrus Judas ansieht und sagt: „Ich habe ihn auch verraten.“ Was, wenn sie sich in den Armen halten können.
Was, wenn wir unsere Fehler eingestehen und mit unserer Scham, unseren Tränen nicht allein bleiben, sondern uns jemand begegnet, dem es auch so geht. Und uns das erinnert an die Vergebung Gottes, die wirklich größer ist als alle Vernunft.
Was, wenn … . Diese Geschichte soll geschehen, um dieses Ende bitte ich, vor allem wenn diese Geschichte alle Tage wieder geschieht. Wenn wir irren, verraten, verleugnen. Die Vergebung soll ankommen. Sonst kann niemand mit oder aus seinen Fehlern leben und aus ihnen lernen. Sonst muss man Angst haben, sich Fehler einzugestehen. Dann sind es immer nur „die anderen“ und „die haben ja noch mehr und viele schlimmer … „. Dann ändert sich nichts, es gibt nur noch mehr Opfer. Ich hoffe diese Geschichte von Judas ist, so wie sie in der Bibel steht, nicht passiert. Aber sie geschieht doch alle Tage, wenn wir nicht aus ihr lernen und einander vergeben. Amen.
Diese Predigt hat mich sehr berührt, musste sie mehrmals lesen. Wo ist sie gehalten worden und wie lautet die Übersetzung des lat. Satzes?
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