Pfingsten: anders sehen.

Meine Nase läuft, jeden Morgen für ungefähr 1 – 2 Stunden. Es ist keine meiner vielen Allergien. Ich gehe zum HNO-Arzt. Er diagnostiziert mir eine stark verkrümmte Nasenscheidewand. Bald werde ich durch mein rechtes Nasenloch nicht mehr atmen können. Längerfristig käme ich an einer Operation nicht vorbei. Ich möchte eine zweite Meinung einholen und besorge mir einen Termin in der Uniklinik. Als ich endlich im Sprechzimmer sitze und mein Anliegen schildere, guckt mich der junge HNO – Spezialist verständnisvoll an und fragt: „Dachten Sie an einen medizinischen oder einen ästhetischen Eingriff?“

Schönheitsoperation?

Bisher habe ich meine Nase immer als vollkommen normal angesehen. Sie lief nur jeden Morgen eine Stunde lang! Ich habe in meiner Nase auch noch nie eine mögliche Problemzone entdeckt und werde dies auch in Zukunft nicht tun! Ich bin empört. Mit welcher Selbstverständlichkeit mir der Arzt diese Frage gestellt hat…

Gefallen möchte ich schon. Zwar nicht jedem und nicht immer und nicht um jeden Preis und nicht nur äußerlich, aber irgendwie doch bitte möglichst oft. Und da, das habe ich gelernt, spielt mein Aussehen eine erhebliche Rolle. Ich bin auch bereit, dafür einiges zu tun. Ich denke an schmeichelnde Kleidung, an Schuhe, an Taschen, an Uhren, alles, was meine Persönlichkeit unterstreicht: Frisur, Make-up, Schmuck. Unliebsamer Weise gehören Sport und gesunde Ernährung auch dazu…

Jeder kann etwas aus sich machen, und wer es lässt, trägt zumindest Mitschuld wenn es nicht klappt mit der Partnerschaft, mit dem Traumberuf, mit der Anerkennung, dem Gefallen, dem Lebensglück.

Das Leben ist bei den Schönen, Gesunden, bei den Erfolgreichen und Reichen. Das ist eines der Gesetze unserer Zeit. Wie viele beugen sich ihm. Manche brechen unter ihm zusammen, werden krank daran, wenige sterben an einer Schönheitsoperation, aber wie viele lassen sich das Lachen nehmen, lassen sich anklagen von den Zahlen auf der Waage oder den Etiketten mit den Buchstaben S, M. L, XL, XXXXL, verurteilen sich selbst im Spiegel. Zu dick, zu dünn, zu weich, zu hart, zu haarig, zu kahl, nicht weiblich genug, nicht männlich genug, nicht gut,sagt der Richter vor dem Spiegel, nicht liebenswert sagt die Richterin.

Aber ein Anwalt erbittet das Wort, Paulus 8. Kapitel des Römerbriefes:

Vor dem Gericht Gottes gibt es also keine Verurteilung mehr für die, die mit Jesus Christus verbunden sind. 2 Denn dort, wo Jesus Christus ist, gilt: Du bist befreit von dem Gesetz, das von der Sünde missbraucht wird und zum Tod führt. Denn du stehst jetzt unter dem Gesetz, in dem der Geist Gottes wirkt, der zum Leben führt.

Wie der Geist Gottes wirkt, habe ich in Hamburg erlebt vor vielen Jahren. Ich bin mit meiner Mutter zu Besuch bei einem guten Freund. Markus hat schon angekündigt, dass er Karten für die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ besorgt hat. Er ist riesig stolz. Pünktlich zum Anfang unserer Tour kommen wir in einer großen Halle in der Speicherstadt an. Dort wird unsere kleine Gruppe in einen Raum geführt. Er ist stockdunkel und ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Ich kann nichts sehen, doch dann spricht von rechts eine warme Stimme. Sie gehört Britta. Sie ist seit einigen Jahren sehbehindert; seit zwei Jahren ganz erblindet.

Sie versichert uns, dass sie uns auf dem Weg durch die Ausstellung begleiten, wenn notwendig auch führen wird. Neben ihrer Stimme wird unsere einzige Orientierung der Blindenstock sein, den sie uns in die Hand gibt.

Wenn wie mögen, schließen Sie die Augen und gehen mit mir mit durch durch die Austellung.

Die Augen- ausgeschaltet. Wir sollen unsere anderen Sinne aktivieren: Fühlen, Riechen, Hören. Meine Mutter steht bei mir und flüstert in mein Ohr, wie aufgeregt sie ist. Nichts sehen zu können, beklemmt sie. Markus dagegen findet alles ganz toll: Ich weiß schon, dass er sich tierisch darauf freut, sich von hinten an mich heranzupirschen, um mich zu erschrecken. Mir ist übel. Meine übrigen Sinne werden nicht funktionieren, das weiß ich schon jetzt. Meine Augen gewöhnen sich nicht an die Dunkelheit. Wir versuchen loszugehen. Wir laufen sofort ineinander und schon bald hören wir auf, uns ständig zu entschuldigen.

Unsere erste Station ist ein Park. Im Dunkeln. Man hört den Park, ich fühle ihn. Ich gerate zwischen, in, oder unter ein Gewächs mit vielen langen kalten Fäden. Ich denke an Schlangen, ich habe Angst vor Schlangen und ich weiß, dass da keine sind, aber ich will trotzdem weg.

Ich kann mit meinem Stock nichts anfangen. Ich rufe nach Britta. Sie findet mich und führt mich behutsam über Moos und Gras zurück auf den Schotterweg der Parkanlage. Ich kollidiere erneut mit anderen Gruppenmitgliedern, kann sie aber bald voneinander unterscheiden. Manchmal erkenne ich sie an ihrer Stimme, manchmal an ihrer Kleidung. Einer hat so einen kratzigen Pullover an, eine andere riecht gut.

Danach gehen wir auf einen Markt, an dessen Ständen wir die Waren ertasten. Wodurch unterscheidet sich eine große Pflaume von einer Nektarine? Die nächste Station bringt uns in den Straßenverkehr. Wir überqueren eine Straße. Ich muss ganz genau hinhören, wann ein Auto, ein Bus, ein LKW oder ein Fahrradfahrer von welcher Seite mit welchem Tempo angefahren kommt. Am Ende hat Britta uns alle unversehrt auf die andere Seite gebracht. Plötzlich weiß ich, spüre ich, dass Markus hinter mir steht. Er will mich erschrecken, aber er ist zu spät. Inzwischen kann ich meiner Wahrnehmung trauen und weiß, was um mich geschieht. Ich kann im Dunkeln sehen. Meine Schritte werden sicherer und schneller.

Nach weiteren Stationen gehen wir zusammen in einer Bar im Dunkeln was trinken. Während die anderen sich über ihre Erfahrungen mit der Dunkelheit austauschen und Britta mit Fragen nach ihrer Krankheit und ihrem Leben durchlöchern, sitze ich da mit meiner Cola und werde ganz ruhig. Keiner kann mich sehen und ich fühle mich erstaunlich wohl. Ich sitze im Dunkeln und atme ruhig und tief. Wie schön, wenn es keine Rolle spielt, wie ich aussehe, welche Haarfarbe ich habe, welche Frisur ich trage, welches Make-up ich auftrage, welche Kleidung ich mir kaufe, welche Figur ich halte. Wie schön, wenn es keine Rolle spielt, wie die anderen aussehen. Wenn wir frei sind von den Blicken. Hier gibt es keine Beurteilung mehr.[1] Ich könnte ewig hier sitzen bleiben.

Eine Frau fragt Britta immer wieder, wie sie denn aussieht und ob wir sie nach der Tour sehen können? Ich war zuerst auch neugierig, aber: Hat diese Frau denn nicht verstanden? Ich habe Britta gehört, sie hat mich gerade so lange geführt, wie ich es brauchte. Sie hat mir ihre Welt und ein wenig von sich gezeigt. Ich will sie nicht mehr sehen. Ich weiß auch so, dass sie gar nicht anders sein kann als wunderschön.

Es muss erst dunkel werden, damit wir sehen können.

Vielleicht hängt deshalb dieses Kreuz da vorn in der Kirche.

In der Dunkelheit des Kreuzestodes Jesus Christi erschüttert Gott unsere Lebensregeln und Sicherheiten, die Verheißungen und Wahrheiten unserer Zeit. Nicht mal durch das äußerliche Befolgen Gottes guter Gebote gäbe es Frieden für uns.[2] Erst recht ist kein Leben und keine Zufriedenheit im verzweifelten Streben nach, im Vergleichen mit, im Beurteilen von Schönheit, Reichtum, Gesundheit, Erfolg.[3] Gott setzt uns in die Dunkelheit, damit wir frei werden von den Gesetzen unserer Gegenwart, den selbst gesetzten Zielen und Lebensinhalten, von den Erwartungen der anderen. Damit wir prüfen können, was uns gut tut und was nicht, weil es nicht zu uns passt oder nicht zu erreichen ist oder…

Wenn ich das jetzt sage, schlägt mein Herz wieder schneller. Ich stehe im Dunkeln und ich sehe nichts. Wonach kann ich mich richten?

 Ich warte und gewöhne mich an dies anfängliche Nichts, langsam verändert sich meine Wahrnehmung.

Im Anblick des Kreuzestodes gibt uns Jesus ein neues Gebot ins Herz. Gott gefallen wir schon; er ist voll Liebe für uns. So, wie er uns ansieht, so sind wir. Liebenswert und schön, auf unsere ganz eigene Weise. Gott will Leben für uns, jeder und jede von uns soll ihren eigenen Weg, seine eigene Berufung, ihre eigene Freude, seine eigene Leidenschaft, ihre eigenen Stärken, seine eigene Schönheit finden und ins Leben bringen. Jesus macht es vor und möglich.

Langsam kann ich mein Leben von Kreuz und Auferstehung her sehen, mein Blick auf mich und meine Mitmenschen verändert sich. Miteinander in Konkurrenz zu treten, wird absurd. Was wir nicht wirklich wollen, scheint nur noch lieblos. Es gibt nun keine Beurteilung mehr für die, die in Jesus Christus sind. Wir müssen uns nicht mehr anstrengen zu gefallen, weder Gott noch den anderen, und uns selbst auch nicht mehr.[4]

Für uns gibt es kein „schönes Leben“, wenn wir mit aller Kraft so sehr gefallen wollen, dass wir uns dabei selbst verlieren. Ich habe damals in der Dunkelheit in Hamburg gemerkt, dass diese Idee mich hindert, meine Mitmenschen und mich richtig anzusehen. Erst als ich fühle, wie gut es tut, dass ich mich nicht mehr sehen kann, dass ich die anderen nicht mehr sehen kann und sie nicht mich, wird mir deutlich, dass aus der eigentlich schönen Sehnsucht, anderen zu gefallen, irgendwann heimlich mehr geworden ist. Und ich spüre, dass dieses „Mehr“ mich fern hält von dem Leben, das ich eigentlich will. Das Leben, in dem ich mir Zeit nehme, weil ich fragen will: Und du? Wer bist du? Was bewegt dich? Wo bist du gerade in deinem Leben, mit deinem Herz, in deinen Gedanken? Von welchem Traum magst du nicht lassen? Wo willst du hin? Das Leben, in dem ich zuhöre, hinsehe, ertaste, phantasiere, schmecke, rieche und hinter all den Fisimatenten, Komplexitäten, Bürokratien, Tabus und Vorurteilen das Schöne eines Menschen, meines Lebens, einer Begegnung zum Vorschein kommt.

Aber: Mein neuer Blick, meine Freiheit ist so zerbrechlich. Ich will sie auf jeden Fall gegen alles behalten – aber was passiert mit ihr, wenn ich den Blick abwende von Golgatha und Emmaus? Ich kann nicht immer im Dunkeln sitzen. Ich verlasse die Ausstellung: Ist ein Pullover schön, weil er gut aussieht, selbst wenn er kratzt? Fände ich Britta schön, wenn ich sie auf der Straße träfe?

Wie sie ihren Weg geht mit dem Stock? Was ist mit den Blicken die mich treffen und mich mustern, mich beurteilen? Gewinnen sie wieder an Kraft, so dass ich der Versuchung erliegen werde, mich besser darzustellen? Die Chancen stehen nicht schlecht, dass ich mich und meine Freiheit wieder verliere.

„Nein, wirst du nicht!“[5]

„Denn der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“[6]

Auch wenn wir im Licht stehen, behält uns der Geist in der Dunkelheit, die uns von den vergleichenden und beurteilenden eigenen und fremden Blicken befreit. Dabei zieht er alle Register dieser Welt: Er tröstet durch den Menschen, in dessen Gegenwart wir alles sein können, und so gerade wir selbst werden, er erinnert durch eine Ausstellung in Hamburg oder ein Kreuz in der Kirche. Er lässt uns Dinge nah kommen und uns berühren, die eigentlich banal sind. Er lässt uns wahrnehmen, was wir so noch nie gesehen haben. Er lässt uns nicht vergessen, sondern immer wieder erkennen. Wir sind nicht allein im Licht. Darum, trotzen wir allen verurteilenden Blicken, Christi Geist und wir.[7] Seine Gabe verändert unseren Blick.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesu.


[1] Röm 8:1f: 1 Denn es gibt nun keine Verurteilung für die, die in Jesus Christus sind!

2 Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Jesus Christus hat dich befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

[2] Röm 8:3 – 4.7: Was das Gesetz nicht vermochte, weil es durch das Fleisch geschwächt war: Gott sandte seinen Sohn in die Gleichheit des Fleisches der Sünde wegen der Sünde und verdammte die Sünde im Fleisch

4 damit die Rechtsforderung des Gesetzes in uns erfüllt würde als solchen,  die nicht nach dem Fleisch wandeln sondern nach dem Geist. 7 Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, es gehorcht dem Gesetz Gottes nämlich nicht und kann es auch nicht.

[3] Röm 8:6: Das Trachten des Fleisches aber ist Tod, das Trachten des Geistes aber ist Leben und Friede.

[4] Röm 8:8. Die aber im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen.

[5] Röm 8:2: Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Jesus Christus hat dich befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

[6] Joh 14:26f vgl. Röm 8:9 – 11: 9 Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn der Geist Gottes in euch wohnt. Wenn jemand aber den Geist Christi nicht hat, dieser ist nicht sein.

10 Wenn aber Christus in euch ist, ist der Leib einerseits durch die Sünde tot, der Geist aber ist Leben wegen der Gerechtigkeit. 11 Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

[7] Röm 8:12f: Darum nun, Geschwister, sind wir nicht dem Fleisch verpflichtet, dass wir nach dem Fleisch leben. 13 Wenn ihr aber nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben.