Durch Mauern getrennt

Er weiß nur: Seine Mutter hatte einen Schlaganfall. Mehr erfährt er hier im Gefängnis nicht. Ein paar Tage später sitzen wir uns im so genannten Seelsorgezimmer gegenüber. Herr D. darf jetzt erstmals mit dem Krankenhaus telefonieren, in dem seine Mutter liegt. Dazu musste Herr D. erst einen Antrag stellen. Und dann hieß es warten, bis die Gefängnisseelsorger Zeit haben. Ein völlig überraschendes kurzes Klopfen an seiner Zellentür, der Schlüssel dreht sich im riesigen Schloss, der Riegel wird zurückgeschoben, die Tür geöffnet. Wir geben einander die Hand, die einzige Berührung in der Anstalt. Dann hintereinander den schmalen Gang entlang, dreimal wird ein Schloss geöffnet und wieder geschlossen. Und dann endlich sitzen wir im Seelsorgezimmer vor dem Telefon – Herr. D., der Gefängnisseelsorger und ich, die angehende Pastorin / Seelsorgerin. Herr D. kramt die Nummer vom Krankenhaus hervor: „Hoffentlich erreiche ich jemanden.“ „Ja, das wünsche ich Ihnen auch sehr“, sagt mein Kollege. Herr D. wählt. Eine Krankenpflegerin meldet sich. Konzentriert erklärt er ihr mit gesenktem Kopf seine Situation, bittet um ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt seiner Mutter. Er offenbart sich, er zeigt, was für einen Sohn die Patientin hat: Einen verurteilten Straftäter, der sich kümmert, der sich sorgt, über die Mauern hinweg. Der Arzt ist eine Ärztin und hat grad keine Zeit. Man will ihn zurückrufen. Herr D. nickt ernüchtert. Mein Kollege schreibt ihm rasch die Telefonnummer vom Seelsorgezimmer des Gefängnisses auf. Herr D. erklärt der Krankenpflegerin, dass sie ihn innerhalb der nächsten dreißig Minuten zurückrufen muss. Andernfalls ist er nicht erreichbar. Die Krankenpflegerin kann nichts versprechen, aber verabschiedet sich mit den besten Wünschen.

Die Zeit dehnt sich. Es scheint unwahrscheinlich, dass die vielbeschäftige Ärztin in diesem Zeitfenster zurückruft. Ich spreche innerlich ein Stoßgebet. „Bitte lass sie anrufen!“

Quälende zwanzig Minuten später klingelt das Telefon! Es ist, als öffneten sich die Gefängnistore einen Spalt weit. Die Ärztin nimmt sich Zeit, antwortet ausführlich. Herrn D.‘s Mutter geht es den Umständen entsprechend gut. Er fragt, ob Briefe sie aufheitern könnten, ob der Rest seiner Familie informiert ist. In diesem kurzen Gespräch tut er etwas für seine Mutter, für seine Familie und für sich. Er nimmt Kontakt auf zu den Menschen außerhalb der Mauern und Gitter. Für diesen Moment ist er resozialisiert. Durch die Erkrankung seiner Mutter wächst ihm Verantwortung außerhalb der Mauer zu. Diese Aufgabe gibt ihm eine Perspektive und spendet Halt. Er spürt, wo er wirklich hingehört. Auf jeden Fall nicht ins Gefängnis.

Zum Abschluss sagt die Ärztin: „Ich wünsche Ihnen, dass sie da früher wieder herauskommen!“ Im Seelsorgezimmer müssen wir alle schmunzeln und Herr D. sagt: „Danke, aber das habe ich wohl nicht so in der Hand.“

Er guckt auf und ist unendlich erleichtert. Auch ich bin dankbar für den Rückruf der einfühlsamen Ärztin. Und: Herr D. hat das toll gemacht, so ehrlich und würdig. Die Mauern mögen ihn eine Weile von seiner Mutter trennen, aber gerade ist er vor uns Gefängnisseelsorgern über die Mauern gesprungen. (Psalm 18, 30)